Titel
Der heilige Gallus 612/2012. Leben – Legende – Kult. Katalog zur Jahresausstellung in der Stiftsbibliothek St. Gallen (27. November 2011 – 11. November 2012). Mit einer vollständigen Übersetzung der Gallusvita Wettis durch Franziska Schnoor


Autor(en)
Schmuki, Karl; Schnoor, Franziska; Tremp, Ernst
Erschienen
St. Gallen 2011: Verlag am Klosterhof
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Iso Baumer

Die Autoren des Katalogs sind: Karl Schmuki, Franziska Schnoor, Ernst Tremp. Vorweg sei gesagt: er ist grosszügig und tadellos ausgestattet, jeder Ausstellungsgegenstand ist farbig abgebildet und hat seine Erklärung auf der gegenüberliegenden Seite. Genau beschrieben ist so der volle Inhalt der acht Vitrinen im Saal der Stiftsbibliothek, aber auch ein Panel im Barocksaal, zusätzliche Vitrinen und eine Bildergalerie im Lapidarium im Untergeschoss der Bibliothek. Höchst dankenswert ist die Übersetzung der Gallusvita des Reichenauer-Mönchs Wetti (†824), der eine nur noch sehr fragmentarisch überlieferte Vita vetustissima überarbeitet hat. Es ist, wenn man den Prolog Wettis mit berücksichtigt, die erste vollständige Übersetzung (Katalog, 167–193). Überdies gab die Stiftsbibliothek auf das Jubiläum hin im Reclam-Verlag die Vita sancti Galli – Das Leben des heiligen Gallus von Walahfrid Strabo (†849) auf lateinisch und deutsch heraus (Stuttgart 2012, 240 Seiten). Er hat sich auf die Vetustissima und auf Wetti abgestützt und den Text um 38 Kapitel erweitert, «welche die Ereignisse und Wunder am Gallusgrab bis in seine Zeit umfassen », sodass sein Werk «zu einer eigentlichen Wallfahrts-, Kult- und Klostergeschichte ausgewachsen» ist (Katalog, 16). Auch diese Vita ist von Franziska Schnoor hervorragend übersetzt und von Ernst Tremp mit allen wünschenswerten Anmerkungen und einem Nachwort versehen worden.

Der erste Satz des Katalogs gibt den Grund zur Ausstellung an: «Vor 1400 Jahren, im Jahr 612 (oder allenfalls im darauffolgenden Jahr), hat Gallus sich im Tal der Steinach niedergelassen» (7). Was in einer beeindruckenden Zusammenarbeit von Stadt, Kanton und Bistum St. Gallen zu diesem Jubiläum geboten wird, zählt ein Festführer von 152 Seiten, mit Stadt- und Kantonsplan und unzähligen Illustrationen (und Inseraten!) auf.

Inmitten darin hat die Ausstellung in der Stiftsbibliothek ihren zentralen Platz. Sie zeigt, dass Geschichte nicht nur Vergangenheit ist, sondern auch fortwirkende Gegenwart sein kann. Mit Dokumenten aus dem reichen Schatz der Stiftsbibliothek und wertvollen Leihgaben holt sie den heiligen Gallus in seiner Zeit ab und macht ihn für uns Heutige verständlich. Die Ausstellung ist in folgende Abschnitte gegliedert: Leben und Wunder des Mönchs und Einsiedlers Gallus – Zeit und Zeitgenossen des Gallus – Irland und der Kontinent – Gallus in der Liturgie – Gallus in der Dichtung – Reliquien und Kultgegenstände – Der St. Galler Klosterplan und der heilige Gallus. Das Panel im Barocksaal zeigt das Leben des heiligen Gallus, gezeichnet 1630 von Pierre Wuilleret und gestochen von Wolfgang Kilian. Die Dokumente und Gegenstände im Lapidarium bezeugen die Gallusverehrung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und das Bild des hl. Gallus im Wandel der Zeit. Jedes Kapitel im Katalog wird einleitend gesamthaft vorgestellt und dann durch die Beschreibung jedes Exponats konkretisiert. Der Katalog reicht weit über die Ausstellung hinaus, da er sie erstens rekapituliert und zweitens die ganze Forschung zu den verschiedenen Themen in die mitteleuropäische Geschichte eingefügt zusammenfasst, wie in den Literaturhinweisen auf den Seiten 194–205 nachgewiesen wird.

Für das Leben und die darauf folgenden Wunder sind die zwei Darstellungen von Wetti und Walahfrid Strabo, die einleitend erwähnt wurden, die Hauptunterlagen. Die nur mehr vier vorhandenen Blätter der Vetustissima wurden zur Beilegung des «Kulturgüterstreits» zwischen St. Gallen und Zürich von der Zürcher Kantonsregierung der Stiftsbibliothek geschenkt. Die vita Wettis ist nur in einem einzigen Exemplar überliefert worden, das aber immerhin zeitlich dem Autor nahe steht. Der Text ist «noch dem merowingischen Stilideal» verhaftet (14), was ja dann den Anlass zu einer «moderneren» Fassung des Walahfrid gab, die in mindestens 75 Abschriften erhalten ist. Er wollte noch eine metrische Vita schreiben, doch hinderte ihn sein früher Unfalltod daran; wohl ein irischer Mönch übernahm dann diese Aufgabe (auch nur in einer Abschrift vorhanden).

Die älteste bildliche Darstellung des Gallus findet sich auf der berühmten Elfenbeintafel des Mönches Tuotilo; der Bär aus der Legende, der hier auch auftritt, ist der Stadt St. Gallen, den beiden Appenzell und dem Bistum als Wappentier bis heute geblieben. Was in alten Texten aufgeschrieben wurde, kam auch vielfältig ins Bild, farbig im St. Galler Legendar von 1451/60, als Holzschnitt aus der Frühzeit des Buchdrucks, wiederum farbig in der Chronik des St. Galler Stadtarztes und Reformators Vadian oder in der feinsinnigen Gestaltung des Galluslebens durch den Goldschmied und Schriftkünstler Josef Tannheimer (1913–2002).

Das Leben des Gallus fällt in eine «selbst für viele Historiker [...] wenig bekannte Epoche.» «In vielen Gebieten, so auch in der Bodenseegegend, hatten sich verschiedene Völkergruppen vermischt.» (34) Daher auch die Fragen rund um die Herkunft des Gallus: Jahrhunderte lang wurde er unzweifelbar für einen Iren gehalten, aber nun hat man sich gefragt, warum er so gut Alemannisch konnte, um so predigen zu können; als Ire sprach er ja keltisch und als Mönch lateinisch (und somit nahe dem Galloromanischen). War er erst in Luxeuil in den Vogesen auf den Iren Kolumban gestossen und hatte sich ihm und seiner strengen Klosterregel angeschlossen? Diese ganze Sprachen- und Herkunftsfrage hat Max Schär in seinem Buch «Gallus. Der Heilige in seiner Zeit» (Schwabe Verlag Basel 2011), 51–76 ausführlich diskutiert. – Man wird sich bewusst, dass der Prophet Mohammed ein Zeitgenosse des Gallus war; sein Koran liegt in einer schönen westarabischen Handschrift vor, die aus dem Maghreb bald nach Ungarn und dann als Kriegsbeute geschenkweise nach St. Gallen kam. Erwähnt sei ein seltsam vertracktes «Figurengedicht» des Venantius Fortunatus; man kann sich in Spekulationen darüber ergehen, was man damals an Zeit und Geduld aufbrachte, um so hochkomplizierte Gebilde zu dichten. Die überlieferte Herkunft des Gallus aus Irland führte dazu, dass St. Gallen in lebendigem Kontakt mit Irland blieb, bezeugt in kostbaren Manuskripten, so die älteste irische liturgische Handschrift (Antiphonar von Bangor, Leihgabe der Biblioteca Ambrosiana, Mailand), oder ein griechischlateinisches vangeliar in irischer Schrift, schliesslich die Beschreibung Irlands in Bedas englischer Kirchengeschichte. St. Gallen ist berühmt wegen seiner kostbaren liturgischen Handschriften und Druckwerken.

Bemerkenswert ist gewiss, dass eine Sequenz des Notker Balbulus auf den hl. Gallus noch heute jährlich am Gallusfest (16. Oktober) in der Kathedrale St. Gallen gesungen wird. Es sei darauf hingewiesen, dass Sequenzen, Tropen und Gregorianischer Choral aus dem Kloster St. Gallen (von Notker Balbulus) in Zusammenarbeit mit der Stiftsbibliothek auf einer CD festgehalten sind (christophorus-records). Ein althochdeutsches Gallus-Lied Ratperts ist leider nur in lateinischer Übersetzung erhalten. Reliquien und Kultgegenstände bezeugen wie die Lebensbeschreibungen, Dichtungen usw. das Fortleben des Heiligen. Aus einer Silberschale wurde mit einem Silberlöffel am Festtag den Gläubigen Gallus-Wein ausgeteilt – dies bis ca. 1950! Dem St. Galler Klosterplan (keine verpflichtende Vorzeichnung, sondern ein Idealplan, dem aber vieles entnommen wurde) kann man die Lage des Gallusgrabes in der Klosterkirche entnehmen. Ein Kupferstich (von insgesamt acht) von Wuilleret/Kilian zeichnet in barocker Weise das Leben des Gallus und weiterer Personen aus seinem Umfeld bzw. seiner Nachfolge. Die typischen Kennzeichen des Galluslebens wiederholen sich auf Stichen, Gemälden

Zitierweise:
Iso Baumer: Rezension zu: Der heilige Gallus 612/2012. Leben – Legende – Kult. Katalog zur Jahresausstellung in der Stiftsbibliothek St. Gallen (27. November 2011 bis 11. November 2012). Mit einer vollständigen Übersetzung der Gallusvita Wettis durch Franziska Schnoor, St. Gallen, Verlag am Klosterhof 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 665-666.